Karten


Gegen drei Uhr morgens erreichte Liana den Hof der Familie Sperling. Alles blieb still und dunkel. Nur der zunehmende Mond, die Sterne in dieser klaren Nacht schienen auf diese ländliche Idylle. Nicht einmal der Hund in seiner Hütte schlug an, als sie den Wagen an der Zufahrtsstraße abstellte. Kein Auto war ihr auf den Weg hierher gefolgt. Absichtlich war sie unterwegs ein paarmal abgebogen, hatte sich vergewissert, von niemandem verfolgt zu werden. Jetzt drehte sie die Rückenlehne des Sitzes nach hinten, zog die Decke vom Rücksitz und kuschelte sich darunter, um die Augen zu schließen. Beim Einschlafen dachte sie an die erholsamen Tage hier bei Hannah zurück, an das gute Essen vor allem aber an Veit.

Liana erwachte träge, sie blinzelte, denn ein Klopfen irritierte sie. Es war bereits hell. Sie benötigte einen Moment, bis sie Hannahs Mutter an der Scheibe der Fahrertür erkannte. Dieses herzliche Lächeln erinnerte sie an ihre verstorbene Großmutter, die sie nach dem Autounfall ihrer Eltern großgezogen hatte. Deshalb mochte sie diese Familie vermutlich so sehr.

»Frau Doktor! Ja, warum schlafen Sie denn hier draußen?« Hannahs Mutter öffnete die Autotür. »Im Auto, das ist doch unbequem.«

Liana stieg aus. Zuerst musste sie ihre steifen Glieder strecken. In einem Bett schlief es sich doch wesentlich erholsamer. »Ich wollte niemanden wecken.« Sie umarmte Frau Sperling zur Begrüßung.

»Veit hat bisher immer durchgeschlafen. Nur heute Nacht nicht. Er schlief einfach nicht wieder ein. Offenbar hat er Sie gehört.« Hannahs Mutter schob Liana über den Hof. Tau lag auf den Gräsern. Die Sonne glitzerte darin, als seien es winzige Diamanten.

»Wie geht es Hannah?«

»Sie hat noch Schmerzen. Deshalb ist Veit seit zwei Tagen bei uns.«

In Liana kroch ein schlechtes Gewissen hoch. »Sie hätten mich doch gleich anrufen können.«

»Hannah wollte das nicht.« Die Mutter blieb stehen, sah Liana ins Gesicht. »Ihre Bitte, sich um Veit zu kümmern, bedeutet Hannah alles. Seien Sie ehrlich, welcher Mann will eine querschnittsgelähmte Frau an seiner Seite? Hannah wird niemals selbst Kinder bekommen.« Sie strich Liana kurz über den Arm. »Sie blüht mit dieser Aufgabe auf, für mich eine große Freude sie dabei zu beobachten.«

Liana nickte, Hannah wäre bestimmt eine sehr gute Mutter. »Hat Veit noch mal eine Bluttransfusion erhalten?« Sie betraten das Haus.

»Nein. Bisher war es nicht nötig.« In der Küche lag der köstliche Duft von frischgebrühtem Kaffee. Lianas Blick fiel auf die Küchenuhr, es war sechs Uhr morgens.

Frau Sperling nahm fünf Teller aus dem Küchenschrank. »Sie müssen entschuldigen, ich habe heute etwas verschlafen. Veit war nur schwer zu beruhigen und der fehlende Schlaf, das bin ich nicht mehr gewöhnt.« Sie platzierte die Teller auf den Tisch. In diesem Moment kam Hannahs Vater in die Küche.

»Guten Morgen, Frau Dr. Majewski.« Sehr munter wirkte er auch noch nicht.

»Guten Morgen, Herr Sperling. Ich bin gekommen, um Sie von dem kleinen Quälgeist zu erlösen.« Liana setzte sich auf einen Küchenstuhl.

»So?« Er musterte Liana über seine Brillengläser hinweg. »Der kleine Quälgeist, wie Sie ihn nennen, ist uns allen verdammt schnell ans Herz gewachsen. Und Hannah blüht buchstäblich auf. Wenn ich meine Blutgruppe wüsste, könnte ich ja für Hannah einspringen.«

Ein protestierendes Schreien zog vom Flur aus durch das Haus. Herr Sperling lächelte. »Dann werde ich ihn erlösen. Er wird ohnehin nicht mehr zum Einschlafen zu bewegen sein.«

Veit war hier wirklich gut aufgehoben. Kurz darauf kam ein aufgewecktes Windelpaket in die Küche geraschelt.

»Lia, Lia!«

Liana lachte. »Guten Morgen Veit.« Er streckte seine kurzen Ärmchen nach ihr aus. Liana musste ihn auf den Arm nehmen, das ging gar nicht anders. Innig kuschelte sich Veit an Liana, als wäre sie seine Mutter. Frau Sperling bereitete unterdessen den Frühstückstisch und ließ Hannah schlafen. Liana staunte über sich, wie viel sie von der selbstgemachten Wurst, von dem frischen Käse und dem leckeren Rührei verdrücken konnte. Diese nette Gesellschaft war daran bestimmt nicht ganz unschuldig. Das war hier wie im Urlaub. Nach dem guten Frühstück fand Liana jede Menge Ablenkung, die all ihre Sorgen davon trieben. Sie mistete den Pferdestall aus, fütterte die Hühner und half beim Beet umgraben. Erst gegen zehn tauchte Hannah in ihrem Rollstuhl auf dem Hof auf. Ihr Gesicht sah blass aus. Dunkle Augenränder ließen erahnen, wie sie sich fühlte. Sie hatte noch immer Schmerzen, aber kein Fieber mehr. Vermutlich ging die Entzündung langsam zurück, das Antibiotikum schlug demzufolge an. Aber eine Bluttransfusion kam in keinem Fall in Frage.

Liana fegte gerade Hannahs Wohnung aus, suchte dabei nach einer Möglichkeit, was sie unternehmen sollte, wenn es Veit jetzt schlecht gehen würde. Bevor ihr die Lösung einfiel, unterbrach ein lautes Geschrei die Ruhe. Es kam eindeutig aus dem Stall. Liana lehnte den Besen gegen die Wand und ging auf den Hof.

Herr Sperling hörte sich ungewöhnlich wütend an. »Gibst du das sofort her?« Ein protestierendes Schreien klang unverkennbar nach Veit. »Das ist doch kein Spielzeug. Gib es mir!« Offensichtlich hatte Herr Sperling keinen Erfolg. Veit kreischte, als ob es um sein Leben ging. Liana eilte zum Stall. »Verdammt noch mal! Gib es mir zurück.« Veit stand mit dem Rücken zur Wand. Er sah Herrn Sperling mit einem verächtlichen Blick von unten her an. Er hielt etwas Rotes in seinen Händen.

Liana stockte der Atem. Blut quoll zwischen den kleinen Fingern hervor und rann am Handrücken herunter.

»Was ist passiert?« Herr Sperling sah auf. Seine Pupillen waren geweitet, seine hektischen Flecken im Gesicht verrieten seine Wut.

»Dr. Majewski. Ich ... ich hätte Veit nicht mitnehmen dürfen. Ich bereite das bestellte Spanferkel vor. Veit hat sich an die Schüssel mit den Innereien herangeschlichen.«

Liana schwenkte ihren Blick auf Veit, der genüsslich an dem roten Ding in seinen Händen zu lutschen begann.

Ein Hammer schien auf Lianas Schädel aufzutreffen.

Sie spürte, wie ihr Unterkiefer mit jedem Atemzug weiter nach unten fiel. Der Vampirgedanke war lebendiger denn je.

»Nun sehen Sie sich den Bengel an. Ausrechnet das Herz hat er sich stibitzt. Das ganze Blut, meine Frau wird einen Schreianfall bekommen.«

Liana konnte plötzlich kaum atmen. Ihre Brust fühlte sich wie zubetoniert an. Ihre restlichen Zweifel bröckelten wie der marode Putz einer Ruine.

Veit war ein zweijähriger Blutsauger!

Eines Nachts würde er über seine Mitmenschen herfallen und das Blut aus ihren Adern saugen. Dieser Victor, er hatte die Wahrheit gesagt und sie hatte auch noch darüber gelacht. Sie hatte den Mann nicht ernst genommen, ihn sogar für einen Verrückten gehalten. Liana befühlte ihren Hals. Da war kein Biss, keine Wunde. Andererseits hätte sie das nicht auch mitbekommen müssen? Die Sache mit ihrer Telefonnummer war ihr ja auch entgangen.

Sie hastete vom Hof. Sie rannte über die Wiesen und lief durch den Wald. Bald lief sie langsam weiter. Davor wegzurennen war zwecklos. Die Beweise lagen zu klar auf der Hand. Sie musste die Existenz von Vampiren akzeptieren. Sollte Alina wahrhaftig eine Vampirfrau gewesen sein? Aber wenn das stimmte, dann hatte der Rechtsanwalt sicher auch recht, was ihre eigene paranormale Begabung anging. Sie konnte tatsächlich Geister sehen.

Und Veit? Sein Instinkt nach blutiger Nahrung sprach für sich. Womöglich brauchte er dafür keine Bluttransfusion.

Nein! Ihr medizinisches Wissen meldete sich zu Wort. Eine Ernährungsumstellung, auch wenn in diesem Fall ein wenig ungewöhnlich, war kein Ersatz für eine Bluttransfusion. Zudem waren Vampire lichtempfindlich. Sie mieden das Sonnenlicht. Weder das schien Veit etwas auszumachen, noch besaß er die typischen Reißzähne. Andererseits fehlte ihr die Kenntnis über Vampire, welche Behauptungen über sie zutrafen und was der Fantasie der Menschen entsprungen war. Lediglich aus Büchern und Spielfilmen kannte sie Vampire. Aber dass diese Erzählungen der Wahrheit, der Realität entsprachen, war für Liana schwer vorstellbar.

Alina war tot. Sie war nicht unsterblich gewesen, auch ihr Mann war gestorben, wenn sie Bucuresti glaubte. Nicolae und Alina hatten einen Sohn, der diesem Wahnsinn entkommen konnte, das hatte Bucuresti jedenfalls behauptet. Dann war Veit gar nicht Bettinas Sohn, sondern das Kind von Alina. Der Anwalt hatte gemeint, Alina sei seit vier Jahren tot, Veit war aber höchstens zwei Jahre alt. Liana rieb sich das Gesicht. Bettina hatte gesagt, sie habe sich dafür hergegeben. Es wäre doch denkbar, dass man Alinas Eizellen eingefroren und Bettina eingepflanzt hatte. Sie hatte sich bereit erklärt, dieses Kind auszutragen. Deshalb ging keiner der Beteiligten zur Polizei, Bettina nicht, Bucuresti und Victor schon gar nicht. Gleich einem Puzzle fügte sich die Angelegenheit zu einem Bild zusammen. Diese Behauptung würde ihr niemand abkaufen. Während ihr Verstand protestierte, begann Lianas Inneres sich mit dieser Tatsache abzufinden. Sie musste diesen Anwalt zur Rede stellen. Jetzt wollte sie die ganze Geschichte erfahren. Entschlossen drehte sie sich um und ging den Waldweg ein Stück zurück. Mitten auf dem Weg lag ein zusammengefaltetes Papier. Eben lag es noch nicht hier, dessen war sie sich sicher. Sie schaute sich um. So weit sie inmitten der Büsche erkennen konnte, war keiner zu sehen. Der Wind rauschte in den Bäumen, wog die Baumkronen sacht hin und her. Vereinzelte Sonnenstrahlen fielen zwischen dem dichten Blätterwerk auf den Waldboden. Der sandige Weg offenbarte lediglich ihre eigenen Fußspuren. Hier war schon seit längerem niemand mehr lang gegangen. Möglicherweise hatte es der Wind hergeweht. Liana hob das Papier auf und faltete es auseinander. Es war ein Teil einer Karte, um genau zu sein zwei Segmente einer größeren Landkarte. Jeder der Ausschnitte wies einen markierten Punkt auf. Es sah aus, als hätte jemand mit einem gekreuzten Schnitt den Ort markieren wollen. Der eine Teil zeigte ein Waldstück in der Nähe von Potsdam, die andere Karte stammte aus der nördlichen Region Berlins und der markierte Punkt war ein Krankenhaus.

Liana sah sich nochmals in alle Richtungen um. Niemand war zu sehen, doch sofort überfiel sie das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden. Das Erlebnis mit Mario wurde beängstigend lebendig. Sie rannte den Weg hinunter, als wäre der Teufel hinter ihr her. Völlig außer Atem erreichte sie den Hof.

»Kinder ernähren sich instinktiv richtig.« Hannah stand mit dem Rücken zu Liana in der Tür zum Stall. »Veit hat Anämie. Er wird das brauchen.«

Herr Sperling sah Liana kommen. »Dr. Majewski. Ist alles in Ordnung? Sie sind ganz blass.«

Liana winkte ab. »Ich werde Sie von Veit erlösen. Das ist ja kein Zustand.« Sie schnappte nach Luft.

Hannah drehte sich in ihrem Rollstuhl zu Liana um. »Bitte nicht. Mir geht es doch schon viel besser. Bitte lassen Sie Veit noch hier.«

Liana überlegte, ob Hannah auch betteln würde, wenn sie ihre Vermutungen kannte. Sie stellte sich vor, wie Veit eines Tages Hannah in den Hals biss. Das konnte sie nicht verantworten.

Unsinn! Von Vampirkindern hatte sie noch nie gehört. Was wusste sie denn über Vampire? Bei Victor wäre Veit wahrscheinlich am besten aufgehoben. Und was, wenn Victor nur auf eine Möglichkeit wartete, seine Blutgier an ihrem Hals zu stillen? Das hätte er gestern Abend einfacher haben können. Nein! Sie musste dieses Chaos in ihrem Kopf beenden und diesen Rechtsanwalt aufsuchen.

Sie schnappte sich Veit, um ihn sauberzumachen.


Bei Morgengrauen erreichte Traian die alte Halle der Stahlfabrik in Hennigsdorf. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es, sich vor dem Sonnenlicht in Sicherheit zu bringen. Seine drei Freunde schlummerten längst unter seinem Mantel. Seine Schritte erschütterten die Stille, als störe er die Ruhe der verlassenen Fabrikhalle. Von den meterhohen Stahlträgern, auf denen die Last des riesigen Blechdaches ruhte, bröckelte der Rost, war im Laufe der Zeit auch auf den kahlen, brüchigen Betonboden gerieselt. Traian sah sich auf der Suche nach einem Schlafplatz um. In einem abgetrennten, etwas höher gelegenen Bereich, welcher früher vielleicht ein Büro gewesen war, fehlte zwar die Tür, doch zum Schlafen genügte das vollkommen. Hier war er vor dem Sonnenlicht in jedem Fall geschützt. Mit seiner Decke aus dem olivefarbenen Seesack legte er sich auf den Boden. Er spürte die Müdigkeit in allen Knochen, aber einschlafen konnte er dennoch nicht. Zu fremd, zu unsicher war seine Umgebung, als dass er sich in die todesähnliche Starre fallen lassen wollte, aus der er neue Kraft schöpfte. Bald begann es zu regnen. Die Tropfen hörten sich durch das Blechdach der Halle nach einem unvergleichlichen Getöse an, dass man sein eigenes Wort nicht hätte verstehen können. Gegen Nachmittag rissen ihn krachende Donnerschläge aus seinem dösenden Zustand. Es klang nach einem heftigen Gewitter, zu dem bald ein heulender Wind einsetzte. Mit diesem Lärm schäumten plötzlich starke Zweifel an seinem nächsten Vorhaben auf. An den Ort des Schreckens zurückzukehren, war eventuell doch keine so gute Idee. Das alte Krankenhaus in Hohen Neuendorf aufzusuchen, würde seine schmerzvollen Erinnerungen nur noch lebendiger erscheinen lassen.

Andererseits war er es seinen Eltern schuldig, sie waren dort gestorben und er wusste nicht, was man mit ihren Leichen gemacht hatte. Nach einem Grab wollte er suchen. Seit seiner Flucht damals, war er nicht dorthin zurückkehrt. Jetzt war es an der Zeit sich dort umsehen, um Gewissheit zu finden, vielleicht sogar einige Antworten. Diese Gedanken wuchsen zu einem Verlangen, das keinen Aufschub duldete. Erst danach sollte er sich dem nächsten Peiniger widmen. Das Gewitter hatte sich inzwischen verzogen und das farbenprächtige Abendrot tauchte die Fabrikhalle in ein magisches rotes Licht. Viel zu lange hatte er das Vorhaben, das Krankenhaus aufzusuchen, vor sich hergeschoben. Aber heute würde er zurückkehren.

Unruhe wühlte Traian auf, als könne er etwas verpassen. Es war noch nicht richtig dunkel, als er sich auf den Weg machte.


Am Nachmittag überkamen Hannah erneut heftige Schmerzen. Liana musste deshalb nicht weiter überlegen. Sie packte Veits Reisetasche zusammen und bedankte sich am Abend bei Familie Sperling für ihre Unterstützung. Beim Abschied wünschte sie Hannah gute Besserung und versprach, mit Veit bald wieder vorbei zu kommen. Heute ließ sich Veit ohne Protest auf den Kindersitz schnallen. Wie vertraut ihr der süße Fratz inzwischen war, selbst mit dem Gedanken, er könnte ein Vampir sein. An diesem Sonntagabend wählte Liana nicht den Weg durch den Wald, wo sie Traian begegnet war, sondern fuhr über die Autobahn Richtung Stadt, das erschien ihr sicherer. Veit schlief unterwegs auf seinem Sitz ein. Seine letzte Bluttransfusion lag genau eine Woche zurück. Sie überlegte, wo sie mit ihm hinfahren sollte, wenn es ihm schlecht ging. Die Charité kam nicht in Frage, aber vielleicht das Krankenhaus Berlin Buch, zumindest konnte sie relativ schnell dort sein. Mit ihm nach Hause zu fahren, kam ihr allerdings auch nicht ganz geheuer vor. Was, wenn Klingbergers Komplizen dort bereits auf sie warteten? Während ihrer Überlegung fand sie sich unbeabsichtigt auf einer Autobahnabfahrt wieder. Das war doch zu blöd. Ihre Gedanken hatten sie zu sehr abgelenkt. Sie hätte weiterfahren müssen. An der Kreuzung hielt sie kurz an, um sich zu orientieren. Die Straße führte nur nach rechts oder nach links. Dabei sprang ihr das gelbe Hinweisschild ›Hohen Neuendorf 4 km‹ förmlich ins Auge.

Der nördliche Kartenausschnitt! Das konnte doch kein Zufall sein! Sie war hier noch nie abgefahren, wozu auch? Aber da sie nun schon mal hier war, sollte sie sich die Gegend der Karte anschauen. Das Ganze musste eine Bedeutung haben. Jetzt fühlte sie sich bereit, herauszufinden, was es mit diesem Krankenhaus auf sich hatte. Sie bog rechts ab, folgte der Landstraße, bis sie das Ortsschild von Hohen Neuendorf passierte. Nach ungefähr zwei Kilometern hielt sie am Straßenrand an. Es gab Hinweisschilder zum Länderinstitut für Bienenkunde, zum Bahnhof sogar zur bekannten Himmelspagode, nur für das Krankenhaus gab es keinen Hinweis. Liana fand das merkwürdig. Um sich den Weg herauszusuchen, zog sie das Kartenstück hervor und folgte dann dem Weg anhand der Karte. Am Ende der Stadt, direkt am Wald gelegen, erreichte sie ihr Ziel. Schon von weitem wurde ihr klar, warum es kein Hinweisschild gab. Hinter einem notdürftig ausgebesserten Zaun, eroberten Bäumen, Sträucher, Moose sowie Farne zurück, was einst ein Krankenhaus gewesen sein könnte. Im Erdgeschoss waren sämtliche Fenster mit Blechplatten versiegelt, vermutlich um Vandalismus vorzubeugen.

Das in U-Form angelegte einstöckige Bauwerk mit Dachgeschoss schien aus den dreißiger Jahren zu stammen, wobei es Liana eher an eine Jugendherberge erinnerte. Die Straße endete hier in einem Wendekreis. Als Liana ihren Wagen wendete, entdeckte sie noch weitere Gebäude Richtung Wald, bei denen die Fenster nicht versiegelt worden waren.

Da! Hinten neben der Tanne, da stand doch jemand! Die Neugier wuchs in ihr. Sie parkte das Auto unter einer Straßenlaterne und drehte sich zu Veit um. Wie niedlich er beim Schlafen aussah, einfach zum Knuddeln. Ihn zu wecken, brachte sie nicht fertig, vermutlich würde er es nicht bemerkten, wenn sie für fünf Minuten weg war. Leise öffnete sie die Autotür, nahm ihre Taschenlampe und drückte die Tür von außen vorsichtig zu, dabei sah sie zu Veit. Er schlief ganz fest. Liana stieg über den maroden Zaun, um auf die Tanne zu zugehen. Jetzt sah sie niemanden.

Sie musste die Möglichkeit in Betracht ziehen, mal wieder nur einen Geist gesehen zu haben. Sie wollte nur einmal um das Haus herumgehen und bloß kein Risiko eingehen. Schnell würde sie zum Auto zurückkehren. An der Nordseite des Gebäudes fand sie eine aufgebrochene Tür und anhand der Spuren auf dem schmutzigen Boden erkannte sie, dass sie nicht der erste Besucher war. Liana spürte ein merkwürdiges Kribbeln in ihrem Körper, von dem sie mehr brauchte. Einen Blick hineinwerfen, sehen, welche Funktion dieses Haus einmal hatte, half vermutlich weiter, die ganze Geschichte besser zu verstehen. Unheimlich hallten ihre Schritte auf dem leeren Flur wieder. Mit dem Eingang im Rücken blieb Liana nach mehreren Metern vor einem Steinhaufen stehen. Vor nicht allzu langer Zeit musste hier jemand diese gemauerte Wand eingerissen und damit die Stufen in einen dunklen Keller freigelegt haben. Liana hörte ihr Blut in den Adern rauschen, ihren rasenden Herzschlag. Sie folgte dem Lichtschein ihrer Taschenlampe die Treppe hinunter. Fünf Schritte nach der letzten Stufe blieb sie in einem Türrahmen stehen.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie einen kleinen Operationssaal. Der Anblick erinnerte sie an eine Projektion, an einen Film und doch sah sie alles dreidimensional. Unter dem Ärzteteam entdeckte sie Bettina und Klingberger in OP-Kleidung. Ein junger Patient lag nackt auf dem OP-Tisch mit Lederriemen gefesselt. Über beiden Augenlidern lagen zwei schmale, über seinem Mund ein breiter Klebestreifen. Ein Schlauch, der Speichel abzusaugen schien, ragte aus der Mitte des Streifens hervor.

Liana spürte, wie ihr Mund trocken wurde. Sie erkannte eine Drainage, die an einer ungewöhnlichen Stelle Blut herausführte. Für den Magen lag die Eintrittsstelle zu tief. Es sah hier nicht nach einer gewöhnlichen Untersuchung aus. Sollte sie den Keller entdeckt haben, wo einst die Versuche durchgeführt worden waren, von denen der Rechtsanwalt gesprochen hatte?

Aber wozu diente diese Drainage? Einer der Ärzte, die Liana nicht kannte, bohrte mit einer Pinzette sowie einem scharfen Löffel brutal in einer blutenden Wunde am rechten Oberarmknochen des Jugendlichen herum, der sichtlich keine örtliche Betäubung bekommen hatte.

Der Arzt schaute kurz auf zu seinem Kollegen. »Die Kugel steckt zu tief im Knochen. Ich denke hier reicht eine schlichte Wundversorgung. Eine Entfernung wäre zu aufwendig.« Der gefesselte Patient ächzte dumpf unter dem Klebeband sogar Tränen quollen in den äußeren Augenwinkeln hervor.

Liana glaubte, seine Empfindungen deutlich spüren zu können. Es war furchtbar.

»Und der Einschuss am linken Schulterblatt?«, fragte Bettina, die um einiges jünger aussah, als heute.

»Da hier vorne nichts zu sehen ist, handelt es sich um keinen Durchschuss.« Der Arzt legte seine Instrumente auf das Tablett. »Er erscheint mir ziemlich fidel. Die Lunge ist mit Sicherheit unverletzt. Das zweite Geschoss wird vermutlich ebenfalls im Knochen steckengeblieben sein. Das scheint mir ein echter Glückspilz zu sein.« Er streifte seine Latexhandschuhe ab. »Wir haben uns lange genug mit dem anderen Objekt befassen müssen.« Der eine Mediziner sprach mit russischem Akzent. »Ich denke, wir sollten für heute Schluss machen.«

Liana konnte nur schwer atmen. Sie sah diese Szenen und wusste doch, dass die Bilder nicht real waren. Wie benommen ging sie weiter.

Ihr stockte der Atem. Im nächsten Zimmer hing der Patient an der Wand, mit zur Seite ausgestreckten Armen, wie früher Leute im Kerker, wenn sie ausgepeitscht werden sollten, nur hielten ihn hier Lederriemen fest. Sein Rumpf war über der Hüfte, über den Rippen und über der Taille an der Wand eng fixiert. Während zwei Ärzte zu beiden Seiten standen, machte sich ein dritter an der unteren Wirbelsäule des jungen Mannes zu schaffen. Liana fragte sich, was das werden sollte.

Die Antwort folgte, als der Mediziner ohne jegliche Betäubung im Lendenwirbelbereich den Rückenmarkskanal punktierte. Der Patient schrie unter seinem Klebeband auf, versuchte dabei der bohrenden Nadel zu entkommen, was durch die Gurte unmöglich blieb.

»Haltet ihn doch still. Was soll ich mit einem querschnittsgelähmten Versuchsobjekt«, schimpfte der Arzt, während er den ersten Liquor in seine große Spritze zog.

Das dumpfe Ächzen und Stöhnen des jungen Mannes hielt an, schien ihn fast um den Verstand zu bringen. Liana hörte ihren pochenden Herzschlag, spürte eine enorme innere Hitze. Wie konnte man diese äußerst schmerzhafte Untersuchung ohne Anästhesie durchführen?

»Schluss«, forderte einer der beiden Ärzte. »Es hat keinen Puls mehr.« Liana rang nach Atem. Diese Mediziner hatten diesen Mann schändlich missbraucht. Nun wurde ihr erneut deutlich, warum Bettina nicht zur Polizei ging. Sie hatte diese bestialischen Verbrechen unterstützt. Aber was bezweckte dieses Ärzteteam damit?


Traian legte zwei Stunden Fußmarsch zurück. Er fragte sich, ob Hartung oder einer der beteiligten Mediziner immer noch in dem verlassenen Krankenhaus Experimente durchführten. Es wäre durchaus denkbar, andere Vampire aus den Händen dieser Ärzte befreien zu können. Allerdings sollte er sehr vorsichtig sein. Allein der Gedanke an sein Gefängnis, an den Operationsraum, an seine Qualen, schien sich in seinem Magen zu entladen.

Nein! Er brauchte die Menschen nicht mehr fürchten. Seine Kraft und sein Geschick waren ihnen weit überlegen. Jetzt wusste er, wie sie vorgingen und wie er sich vor ihnen schützen musste. Dieses Wissen von heute hätte ihm damals vor seinem Schicksal bewahren können. Aber nun ließ sich die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Den Tod seiner Eltern zu rächen, gab seinem Leben einen Sinn. Solange auch nur einer der Peiniger ungestraft davon käme, würde er keine Ruhe finden. Inzwischen erreichte er den Waldrand. Das Krankenhaus lag vor ihm. Bäume und Büsche ragten wild durcheinander, Unkraut wuchs aus den Regenrinnen. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr ihn dieser Anblick bewegte, wie heftig sein Herz in seiner Brust schlug.

Damals hatte er sich das Haus nicht angesehen. Zu groß war seine Anspannung, ob seine Flucht tatsächlich geglückt war. Traian versteckte seinen Seesack im Gebüsch. Er griff in seinen Mantel, um die Fledermäuse fliegen zu lassen. Er musste hart schlucken. Wie lange mochte es wohl her sein, dass man seine Eltern und ihn hierher verschleppt hatte? Traian hatte jegliches Zeitgefühl dort unten im Keller verloren. Später, als freier Mann, hatte er sich für Tage oder Monate nicht interessiert. Es spielte keine Rolle, wie viel Zeit er für seine Rache brauchte. Von seinen vielen Empfindungen geleitet, sprang er über den Zaun auf das Gelände und schaute sich gründlich um.


Veit!

Er war allein im Auto und Liana befand sich mit Sicherheit bereits zwanzig Minuten hier unten. Ihre Knie zitterten, während sie die Stufen hinaufstieg. Diese Bilder, die sie eben miterlebt hatte, gingen ihr nicht aus dem Kopf, erst recht nicht aus ihrem Herzen. Ganz bestimmt hatte sie längst nicht alles gesehen, doch für den Anfang war das mehr, als ihr Gemüt verkraften konnte. Es kam ihr schon sehr seltsam vor, wie sie den Weg hierher gefunden hatte, genauso merkwürdig, wie die beiden Kartenausschnitte, die unerwartet vor ihr lagen. Was sie wohl in Potsdam in dem Wald für ein Erlebnis erwarten würde?

Ihr fiel der Rechtsanwalt ein, der behauptete, Nicolae und Alina hätten einen Sohn gehabt, der diesem Wahnsinn entkommen konnte. Es handelte sich gar nicht um Veit, sondern um diesen jungen Mann von eben. Bucuresti hatte einen Namen genannt, aber sie wusste ihn nicht mehr.

Sie fragte sich, warum ausgerechnet sie in diese dunkle Geschichte rein gezogen worden war. Liana sah plötzlich das Bild von heute Mittag vor sich, von Veit im Stall, wie er das blutige Herz in den Händen hielt. Kein normales Kind würde sich ein Schweineherz stibitzen, aber war Veit wirklich ein Vampir? Victor und dieser Anwalt konnten ihr bestimmt ihre Fragen beantworten, sie musste dort anrufen. Aber jetzt wollte sie nur schnell zu Veit zurück. Kurz vor der Ausgangstür knipste sie die Taschenlampe aus, nicht, dass man sie am Ende noch mit einem Einbrecher verwechselte. Dann öffnete sie die Tür.


Traian ging an der alten Wäscherei entlang. Darunter lag jener Keller, in dem er diesem Ärzteteam ausgeliefert war. Da! Ein Lichtschein einer Taschenlampe tanzte von innen an den Fenstern vorbei. Er presste sich gegen die Mauer.

Diese Monster führten also immer noch Versuche durch. Traian nahm einen tiefen Atemzug, wie ein Blitzlichtgewitter erschienen vor seinem geistigen Auge Bilder aus der Vergangenheit. Sein Herz begann zu rasen, seine Hände fingen an zu zittern. Er schüttelte seinen Kopf.

Nicht zurück denken! Jetzt hatte er seine Chance frei zu bleiben. Er bewaffnete sich mit einem stabilen Ast, positionierte sich damit neben der Eingangstür. Sein Schlag sollte zu seinem eigenen Wohl nicht danebengehen. Wovor fürchtete er sich eigentlich? Als Vampir war er mit seiner Stärke, mit seiner Schnelligkeit den Menschen weit überlegen. Nur seiner Unerfahrenheit hatte ihn damals in diese ausweglose Situation gebracht. Traian spürte, wie viel ruhiger er jetzt war. Bestimmt war Hartung der nächtliche Besucher, der ein weiteres Opfer gefunden hatte, um seine ach so wichtige wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen. Traians Finger klammerten sich um den Ast. Die Schritte kamen deutlich näher. Hartung sollte nur kommen, Traian fühlte sich bereit. Die Türklinge bewegte sich nach unten. Traian griff fester zu, bis der Ast leise knarrte. Der helle Lichtspalt unter dem Türschlitz erlosch. Kaum hörbar stöhnten die Scharniere der Tür, dann trat jemand auf das Eingangspodest.

Mit der Kraft seines Hasses schwang Traian den Ast der Gestalt auf die Schläfe zu.

Das Gesicht!

Zu spät erkannte er, wer der nächtliche Eindringling war. Nur die Wucht konnte er abbremsen, nicht aber den Schlag selbst. Liana sackte augenblicklich zusammen. Er erstarrte, doch nur für einen winzigen Moment. Fast gleichzeitig schleuderte er den Ast zur Seite und fing Lianas ohnmächtig werdenden Körper auf.

Was hatte er nur getan? Sie wollte er ganz bestimmt nicht verletzen. Die aufgeplatzte, blutige Wunde an ihrer Schläfe rief Traians Gier nach Menschenblut wach. Sein Mund fühlte sich trocken an. Nein!

Ausgerechnet ihr Blut durfte er nicht trinken, dies musste ein Privileg seiner Rache bleiben. Er leckte sich über die Lippen, kämpfe mit dem Verstand gegen sein Verlangen an. Vorsichtig legte er Liana auf das hohe Gras, drei Schritte vom Gebäude entfernt. Er genoss den Anblick, sie anzusehen. Seine Hände kribbelten, als er ihr langes Haar von der Stirn strich. Ihre Haut, wie wunderbar weich, wie zart sie war. Langsam beugte er sich vor, näherte sich mit seinem Gesicht dem ihren. Wie betörend ihr Duft auf ihn wirkte. Er schloss die Augen, um den Geruch ihrer Haut einzuatmen, um ihn in sein Gedächtnis einzubrennen. Er fühlte sich berauscht. Wie von einem Magnet angezogen, berührte er mit seinen Lippen ihren Mund. Das kitzelte in seinem ganzen Gesicht. Tausend Sinne belebten seinen Körper, öffneten ihm ein Kaleidoskop unbekannter Gefühle.

Traian setzte sich auf, schaute Liana intensiv an. Ganz sanft, als wäre sie zerbrechlich, streichelte er mit seinen Fingerspitzen über ihre geschwungenen Augenbrauen, die kleine Nase herunter, bis zu ihrem Mund. Er fuhr mit seinen Fingern ihr flaches Kinn, ihre rosa Wangen entlang. Sie war so wunderschön und dass, obwohl sie keine Vampirfrau war. Traian zuckte mit dem nächsten Gedanken zusammen.

Was hatte Liana hier zu suchen? Vermutlich steckte sie mit den anderen Ärzten unter einer Decke. Ihm fiel kein Grund ein, warum sie sonst diesen Ort aufzusuchen sollte.

Bei Dracula!

Sie war eine von ihnen, eine Quacksalberin, die Vampire quälte. Ihm stockte der Atem. Neulich hatte sie ihn bereits ins Auto gelockt. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn er nicht so schnell zu sich gekommen wäre. Diese Überlegung vertrieb sämtliche Gefühle für sie. Er wich einen Schritt zurück. Vielleicht hatten die Übrigen aus dem Team sie sogar dafür angeheuert, ihn mit ihrer Schönheit, ihrem Charme einzufangen. Eine abscheuliche, niederträchtige Vorstellung. Ein Blick in ihr Gesicht verursachte ein riesiges Chaos.

Wäre Liana wirklich dazu in der Lage, ihn zu quälen? Hatte sie doch eine gänzlich andere Ausstrahlung? Sollte ihn sein Instinkt so täuschen?

Nein! Derartiges traute er ihr nicht zu. Aber es musste einen Grund geben, warum sie ausgerechnet hier herkam. Ein innerer Kampf brach aus, mit dem Traian nicht umzugehen wusste. Liana unter dem Ärzteteam konnte und wollte er sich nicht vorstellen.

Nein, nein, nein! Das dufte nicht sein. Ihm gelang es nicht, seine Zweifel vollständig zu ersticken. Zwischen Erinnerungen, wie man ihm bei vollem Bewusstsein, die Niere entfernt hatte, wie ihm der Hüftknochen angebohrt wurde und der heilsamen Begegnung mit Liana hin und her gerissen, war er nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Zur Sicherheit sollte er sie fesseln.

Wie albern. Was konnte eine menschliche Frau ihm schon anhaben?

Und wenn sie doch zu ihnen gehörte? Immerhin kannte sie Klingberger, andererseits schien sie ihn nicht sonderlich zu mögen. Traian beschloss zunächst, das Krankenhausgelände mit ihr zu verlassen. Er hievte sich Liana über die Schulter, trug sie in den Wald. Im dichten Gebüsch ließ er sie behutsam auf einen Moosteppich gleiten. Wenn sie mit ihrem Auto hergekommen war, musste Traian wachsam bleiben. Vielleicht hatte sie einen neuen Verfolger. Noch immer fühlte er sich zerrissen, von seinen Rachegefühlen für die Mediziner und seiner Zuneigung zu ihr. Als er bemerkte, wie sie langsam wieder zu sich kam, begann sein Herz heftig zu schlagen. Er hörte das Rauschen seines Blutes in den Ohren.